Liebe Davoser !
Es tut mir leid, dass ich mein 50-Jahr Jubiläum nicht bei euch feiern kann.
Ich schreibe aber immer noch gerne ins Hütten- und ins Gipfelbuch:
Max Pfiffner, SAC Davos
Ich betreute vor 50 Jahren das Telegrafenamt Davos Platz, als ich mich mit Unterstützung meiner Paten Nik Kindschi und Hans Angerer um die Mitgliedschaft bewarb und aufgenommen wurde.
Von unzähligen herrlichen Bergtouren im Sommer und im Winter zeugen fast ebenso unzählige durchgelatschte Bergschuhe, von Schweiss, Schnee und Dreck verrottete Seile und Rucksäcke, verbogene und zerbrochene Skistöcke, mehrmals umgeschmiedete Steigeisen, und was alles halt sonst so an ausgedientem Verbrauchsmaterial anfällt.
Das wertvollste aber sind die Geschichten und die vergilbenden Fotos, die uns immer wieder ans frühere Glück erinnern.
Eine davon möchte ich euch hier erzählen, weil der SAC Davos daran beteiligt ist, und weil man daraus lernen kann, so man will, wie man es nicht machen soll.
Am Mittwochabend vor Auffahrt 1965 fuhr ich mit meinem damaligen Zimmerkollegen und späteren Hüttenwart auf Grialetsch, Gusti Scherrer, mit Franz Augustin, welcher Gusti später eine Hüttenhilfe wegheiratete, und mit Arno Chiogna, dem späteren Hüttenwart auf Boval, von Zürich Richtung Frankreich, um das Dach Europas zu besteigen.
In Bulle übernachteten wir, um am nächsten Vormittag so gegen zehn in Chamonix einzutreffen. Das Wetter tendierte von intensivem Regen langsam langsam Richtung Besserung, so dass wir guten Mutes unsere Ausrüstung zur Aiguille-du-midi Bahn schleppten. Der Aufstieg von der Plan de l’Aiguille zum Refuge des Grands Mulets wickelte sich meist im Nebel ab, doch dort angekommen heiterte sich die Stimmung schnell auf, denn dort passte bereits eine Gruppe von Kameraden des SAC Davos auf die Besteigung des Mont Blanc.
Meine Heiterkeit verdüsterte sich indessen schon bald wieder, als ich bemerkte, dass meine Steigeisen in Arnos VW unten geblieben waren. Alles Werweissen nützte jetzt nichts, der Hüttenwart wusste auch keine Hilfe, und ich legte mich verunsichert und niedergeschlagen zur Ruhe.
So um 3 Uhr ging ich nach dem Wetter schauen. Man sah es aber nicht, denn es herrschte dichtes Schneetreiben. Bäh. Die nächste Kontrolle um fünf Uhr ergab das gleiche Bild. Doch um sieben Uhr: Kein Wölklein mehr am Himmel, strahlendes Wetter … Was tun ?
Meine Kollegen wollten für heute nichts vom Mont Blanc wissen, die Davoser hingegen sprachen von einem Rekognoszierungs-Versuch, so weit es eben ginge. Ich fragte schüchtern, ob ich mich ihnen anschliessen dürfe, was sie sofort genehmigten. So fragte ich Franz nach seinen Steigeisen, die er mir gerne übergab, und um die acht gings los.
Allzu sicher waren die Verhältnisse ja nicht …
… doch zuversichtlich stiegen wir Schritt um Schritt aufwärts in die überwältigende Szenerie, bis mir auf dem Grand Plateau auf 4000 m der Schnauf ausging. Fertig. Aus. Noldi Gschwend leistete Hilfe. Ich bekam von ihm ein paar Schluck schwarzen Kaffee, eine Gly-Coramin Tablette und den Rat, mich hier zu erholen und dann ruhig zur Hütte zurück zu fahren.
Entmutigt setzte ich mich hin, schaute zum unerreichbaren Mont Blanc hinauf, und wartete auf Besserung. So gehts halt, wenn man sich nicht akklimatisiert. Hätte ich eigentlich wissen können.
Zu allem Verdruss tauchten nun auch noch meine Kameraden auf, welche der Hafer doch noch gestochen hatte, und sie wollten weiter, höher. Traurig übergab ich die Steigeisen wieder an Franz. Doch nach vielleicht einer halben Stunde packte mich der Trotz, und ich dachte, es wäre doch gelacht, wenn ichs nicht noch bis zur Vallot-Hütte schaffen könnte.
Also stand ich auf, packte den Rucksack, und begann, Schrittchen um Schrittchen, aufwärts zu steigen. Und siehe, es ging, und es ging besser und besser. Aber oh je, ein Viertelstündchen weiter oben sass jetzt Franz, ausgelaugt und ohne Schnauf, und konnte nicht mehr weiter. Nun war es an mir, ihm den Rat zu geben sich zu erholen, und dann zur Hütte abzufahren. Ich selber wollte noch ein wenig weiter. Leider vergass ich dabei, vielleicht auch wegen leicht beeinträchtigter Hirn-Funktion, ihn wieder um die Steigeisen zu bitten.
Und siehe, auf dem Refuge Vallot hatte ich die beiden andern bereits eingeholt. Dort war nun guter Rat teuer. Arno kam er aber in den Sinn:
Er kenne einen, der sei auch einmal ohne Steigeisen auf dem Mont Blanc gewesen, und das können wir also auch versuchen. Gesagt getan.
Wir seilten uns an und begannen den Aufstieg am Bossesgrat. Ich wie gewohnt voraus, nur ohne Steigeisen. Das ging eigentlich ganz gut, nur dass sich jetzt von Zeit zu Zeit das Seil spannte, und wenn ich zurück schaute, ich einen über dem Pickel eingeschlafenen Gusti erblickte, den ich wieder wecken musste.
Gustis Schlaf am Bossesgrat
Meinen Vorschlag, die Tour doch besser abzubrechen, fand indes kein Gehör, er wollte hinauf. Nur hinauf. Möglicherweise waren es ja auch die Davoser, die bereits kurz unter dem Gipfel waren, und uns einflüsterten, dass wir das ja sicher auch noch fertigbringen würden.
Und wirklich, wenn auch kaum zu glauben, am Nachmittag um drei Uhr gratulierten wir uns und den Davosern, bei leicht diesigem Wetter, zum Gipfelerfolg.
Max, Arno und Gusti, fotografiert von einem Davoser.
Die Freude dauerte allerdings nicht lange, denn plötzlich fiel dichter Nebel ein, und es begann zu schneien. Die Davoser waren schon weg, Gusti wollte so rasch wie möglich auch fort, und ich fragte Arno, ob wir uns anseilen sollten. „Ja wenn wir das Seil schon hier haben, warum nicht?“ war seine Meinung. So stapften auch wir los, ich voraus, in den Nebel und in die Schneeflocken hinein.
Und plötzich tappte ich ins Leere ! Mit einem Schrei: “Ich verreise!“ meldete ich mich ab, nach rechts Richtung Grand Plateau hinunter. Arno sprang schnell entschlossen auf die andere Seite des Grates hinunter, und so endete mein Sturz abrupt nach einigen Metern.
Mein Pickel steckte weit neben mir im Schnee. Als ich ihn behändigt hatte und wieder bei Arno oben war, reichte ich ihm in Trenker-reifer Pose meine Rechte, um ihm für meine Rettung zu danken. „Hau ab, Arschloch, dafür geht man am Seil.“ war sein bündiger Kommentar.
Als wir gegen fünf Uhr bei der Vallot-Hütte am Skidepot zurück waren, schien bereits wieder die Sonne, und unsere Stimmung war wieder im oberen Bereich.
Ski anschnallen, und juhui gings in den frischen Pulverschnee. Aber nicht sehr weit. Gusti hängte nämlich an einem verschneiten Eisbrocken an, es überschlug ihn zünftig, und von der Stirne rann das Blut. Während wir ihn verarzteten, begann es einzunachten, und der Nebel fiel wieder ein.
Und anstatt nun unsere übermütigen Schwünge hinab zu den Grands Mulets zu drehen, mussten wir immer vorsichtiger darauf achten, die vorhandenen Spuren der Davoser nicht zu verlieren. Um sechs Uhr, in völliger Dunkelheit, zeigte mein Höhenmeter, den ich glücklicherweise immer wieder kontrolliert hatte, 3000 m. Da durften wir nicht mehr weiter hinab, auf dieser Höhe musste die Hütte sein, wir mussten mit Queren beginnen.
Plötzlich meinte ich Rufe zu hören. Richtig, Franz hatte angefangen, sich um uns Sorgen zu machen, war vor die Hütte hinaus und hatte einfach einmal geschrieen. Das war Hilfe zur rechten Zeit, und erlöst traten wir bald darauf in die Wärme. Ich suchte meinen Schlafplatz auf, legte mein Zeug weg, fiel hinein und schlief.
Der Samstag Morgen zeigte sich in seiner schönsten Pracht, so dass wir uns voller Begeisterung entschieden, auf die Aiguille du midi zu fahren, um das Vallée Blanche gleich noch mitzunehmen. Der Übermut nahm nun wieder überhand, die Schwünge in der Jonction unterhalb der Hütte wurden immer kühner und verwegener, bis Franz den Bogen überspannt hatte und einer seiner Skier direkt unter der Bindung brach. Ich brauche seine Fahrt zur Plan de l’Auguille hinunter hier sicher nicht extra zu schildern.
Adieu Vallée Blanche. Stattdessen fuhren wir gleich mit dem Bähnlein hinunter nach Chamonix, wo meine Steigeisen geduldig warteten, und waren um sechs Uhr am Samstag Abend zurück in Zürich.
Auf dem Mont Blanc war ich auch, erzähle ich oft voll äusserlichem Stolz.
Es war eine der grössten Dummheiten in meinem Bergsteigerleben.